
Wer kämpft, kann verlieren. Wer nicht kämpft, hat schon verloren.
Bertolt Brecht
Wenn ich mich recht erinnere, hiess das Gremium damals umgangssprachlich „Gewissenskommission“. Eine Kommission war es, die von Gesetz wegen in Österreich von 1975 bis 1992 tagte und vor der alle jene ihr Gewissen offenlegen mussten, die den Wehrdienst verweigerten. Ich nahm diese Möglichkeit schon 1975 wahr, unterstützt von einem Freund, der mich als „Vertrauensperson“ zur peinlichen Befragung begleitete. Es war dies das erste Jahr, nachdem die sozialdemokratische Regierung unter Bruno Kreisky die rechtlichen Möglichkeiten geschaffen hatte, statt dem Wehrdienst auch Zivildienst ableisten zu können. Man wusste zwar als linker Heranwachsender nicht so recht, was ein Gewissen sein sollte und wie es sich von politischer Überzeugung unterschied, aber wenn dem eben so war, konnte der Staat sein Gewissen gerne haben. Den staatlichen Stellen wollte ich meine Gewissensnöte gerne vorlegen, auch wenn dies eher einer Gewissensinquisition glich.
Doch das richtige Gewissen war eigentlich ein falsches, wenigstens vom Standpunkt der noch immer stockkonservativen Gesellschaft aus. Man wollte auf jeden Fall vermeiden, dass allzu viele Jugendliche Zivildienst leisteten. Eine Kommission sollte deshalb der Türhüter werden. So waren es 1975 nur knapp über 350 junge Männer, die Zivildienst leisteten. Doch in den kommenden Jahren wollte diese Behinderungsstrategie kaum mehr wirken. Immer mehr „Verweigerer“ meldeten sich zur Befragung, sodass man zunächst den Zivilersatzdienst verlängerte und dann schliesslich die Kommission 1992 abschuf. Mit der Zeit wurde aus den Verweigerern dann die Jungs, die man umwarb: von den Institutionen, die ohne die Arbeit der Zivildiener nicht mehr zurechtkamen aber auch von seiten der Politik. In Zeiten der Pandemie hat die rechtskonservative Bundesministerin Elisabeth Köstinger sogar selbst Werbung für den Zivilersatzdienst gemacht, so sehr war man auf die billige Arbeitskraft der „Verweigerer“ angewiesen.
Doch damals, in der Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts waren die Zeiten anders. In den Strassen protestierten Schüler und Studenten für die Abschaffung des Bundesheeres. Eine breite Solidaritätsbewegung mit Nikaragua schwappte von der damaligen BRD auch auf Österreich. Die Solidarität mit den Widerstandsbewegungen der Dritten Welt gipfelte in dem Spruch: „Solidarität ist die Zärtlichkeit der Völker“. Man leistete Widerstand gegen die herrschenden Verhältnisse, die Zeit der Post – 68er hatte begonnen und trug sich selbst mit ihren Kindern zu Grabe. Ab den 80ern setzte eine breite Entpolitisierung der Gesellschaft ein. Man begann Volkswirtschaft zu studieren und wollte Karriere machen. Internationale Solidarität interessierte weniger. Der Sieg des Neoliberalismus schien auch alle Konflikte mit den „Russen“ geschluckt zu haben. Man glaubte eine zeitlang tatsächlich, dass Geld die Welt regiere.
Das Bundesheer selbst hatte wenig Interesse, sich mit den Kriegsdienstverweigerern und Schmuddelkindern, wie ich offenbar eines war, herumzuschlagen. Leute wie ich waren verhasste Störfaktoren im militärischen Betrieb. Dienst ohne Waffe, wie konnte es so etwas geben dürfen! Man hatte genug von den Jugendlichen, die den eigenen Betrieb in Frage stellten und dafür eine gewisse mediale Aufmerksamkeit erhielten. Denn es war tatsächlich so, dass dieses Heer wie ein Kinderspielzeug wirkte in den Zeiten des (Ersten) Kalten Krieges, als die Atomwaffen von Ost und West auf Europa gerichtet waren. Die österreichischen Militärs aber schmiedeten heroische Abwehrkämpfe gegen die Russen, die über die Tschechoslowakei und Ungarn, vielleicht auch über Jugoslawien anrücken würden. Das Ressentiment, ja der Hass gegen die Russen war ja ein Kind des Nationalsozialismus, das in meiner Jugend eifrig weitergezüchtet wurde: Frauenvergewaltiger statt Befreier vom Nationalsozialismus, kommunistische Horden statt Kulturvölker – das brütete noch immer dumpf vor sich hin und verhinderte eine rationale Beurteilung einer Gefahr aus dem „Osten“. Für die strammen Rechtskonservativen Österreichs wiederum waren die Pazifisten der Ostermarschbewegung nicht nur die Fünfte Kolonne, sondern mehr noch: gefährliche Revoluzzer und ideologisch Irregeleitete, die man mit den Vokabel „Wehrdienstverweigerer“ verunglimpfte. Wir waren Agenten Moskaus. Ein Zivildiener der ersten Stunde brachte es auf den Punkt:
Von der gesellschaftlichen Zuschreibung waren Zivildiener eine Aussenseitergruppe, die so irgendwo zwischen Religiösen, wie Zeugen Jehovas, Rauschgiftsüchtigen, Langhaarigen und bestenfalls revoltierenden Studenten angesiedelt waren.
Zivildienst seit 1975, BMLRT (Videoaufnahme)
Der Weg zum Pazifismus war aber immer schon mit Widersprüchen gepflastert, damals wie heute. Eines war von vornherein klar: ja nicht politisch argumentieren vor der „Gewissenskommission“, denn dann „fiel“ man mit Sicherheit „durch“. Davor wurde man von „Subversiven“ aller Coleur nachdrücklich gewarnt. Nichts hassten die Mitglieder der Zivildienstkomission mehr als politische und gar auch noch linke Positionen, die den spiessbürgerlichen Lebensentwurf in Frage stellten. Denn Politik hatte mit „Gewissensgründen“ nichts zu tun. Man musste sich also gegen jedwede Gewalt wenden, ohne sich selbst für Widerstand mit Gewalt auszusprechen. In jenem damals gerne konstruierten Fall, dass die „Russen“ einmarschieren würden, durfte man also aus Sicht der Kommissionsmitglieder nicht selbst bewaffneten Widerstand leisten, sondern musste ihnen gewaltfrei begegnen: Flugblattaktionen, Sitzblockaden, ziviler Widerstand eben. Würde man eine Waffe gegenüber den „bösen Russen“ erheben, so war man schon gewaltbereit: nicht würdig, ein Zivildiener zu sein, sondern eben ein ganz gewöhnlicher Wehrdiener: Soldatenmaterial eben. Die Argumentation war für die Petenten also schwierig und erforderte gute Schulung. Wir übten das im Vorfeld. Handzettel mit den Fragen der Gewissenskommission machten die Runde. Denn zum Heer wollten wir auf alle Fälle nicht: da hiess es eben, gut vorbereitet zu sein. Und als Zeugen Jehovas wollten wir auch nicht dastehen. So wanderte man argumentativ auf einem schmalen Grad und log sich eben durch, so gut es ging.
Auch ich musste vorsichtig sein: Gewalt lehnte ich nicht völlig ab. Als der us-amerikanische Geheimdienst in den Siebzigerjahren Nikaragua mit Krieg überzog, gingen einige von uns zu den Freiwilligen Brigaden. Auch der Partisanenkrieg gegen das Naziregime in Jugoslawien erschien uns logisch, notwendig, ja sogar geboten gewesen zu sein. Und die Befreiung von der Naziherrschaft hatten nicht Verhandlungen gebracht, sondern die Kapitulation vor der anrückenden Armee der Alliierten. Man konnte also sagen: ich war nie ein „richtiger“ Pazifist, sondern imaginierte mich klammheimlich als Partisan gegen Diktatur und Unterdrückung. Ob ich tatsächlich gegen ein Unrechtsregime mit der Waffe in der Hand bekämpft wäre, steht auf einem anderen Blatt. Das blieb mir gottseidank immer erspart. Die Zivildienstkommission habe ich aber gerne wissentlich belogen: ich zog mein ziviles Engagement (das ja tatsächlich vorhanden war) aus dem Talon, blieb bei den saudummen Fragen der Kommissionsmitglieder ruhig und gefasst und las das Gesprächsprotokoll der Befragung mit meinem Freund mehr als einmal sorgfältig und kritisch. Bewaffneter Widerstand erschien mir aber immer als die letzte aller Möglichkeiten zu sein und gegen ein Verbrecherregime ein probates Mittel. Das verschwieg ich allerdings. Belohnt wurde ich für mein Lavieren mit einem achtmonatigen Sozialdienst bei gebrechlichen Menschen. Nicht dass dieser angenehm gewesen wäre, aber er trug zum Erwachsenwerden bei.
Woher kam aber dieser Widerstand, ins österreichische Bundesheer einzutreten? Ich hasste schlichtweg die machistischen Befehlskette, in die man gepresst werden sollte und den Gedanken, in einem (jederzeit möglichen) Atomkrieg als Erster getötet zu werden. Ich fand es schlichtweg inakzeptabel, zum Töten ausgebildet zu werden. Ich war wie viele andere für einseitige Abrüstung der transatlantischen Allianz: Österreich sollte seine Neutralität ohne Waffen zu wahren versuchen. Vor einmarschierenden Russen oder Jugoslawen hatte ich keine Angst. Die Sowjetunion und seine Trabantenstaaten lagen ohnedings schon wirtschaftlich, ideologisch und technologisch am Boden, was sich schon bald ohnehin im erwartet-unerwarteten Zusammenbruch des „Ostblocks“ zeigen sollte. Krieg war abstrakt, das Militär deshalb hauptsächlich ein Instrument der physischen und geistigen Disziplinierung und Unterdrückung: in keinem Fall aber Garant einer wie immer gearteten Freiheit. Ich hatte Besseres zu tun, als einer Lachtruppe beizutreten: Menschen zu helfen war meine Vorstellung vom Leben und nicht zu lernen, sie zu töten.
In meiner damaligen Haltung, nämlich dem Recht auf Selbstverteidigung, nötigenfalls mit Waffengewalt, fühle ich mich auch heute bestärkt. Solidarität ist tatsächlich die Zärtlichkeit der Völker. Heute, wo allerorten ein bisweilen unappettitlicher Bellizismus tobt, bleibt dennoch nur eine Option für jeden, der sich baldigen Frieden in Europa herbeisehnt: nämlich die Ukraine mit allen Mitteln gegen einen unmoralischen und gewissenlosen Angreifer zu unterstützen, mit wirtschaftlichen, politischen, humanitären und letzten Endes auch militärischen Mitteln. Oder, um es auf einen einfachen Nenner zu bringen: kein Frieden ohne die ernstzunehmende Androhung von zureichender Gewalt gegen den Angreifer. Das ist man den zivilen Opfer der Ukraine und auch dem Projekt Europa schuldig. Letzten Endes wird man wohl auch ans eigene Eingemachte gehen müssen: nämlich die Gas- und Öllieferung aus Russland zu stoppen. Wer hingegen dem Kriegsopfer Ukraine weitere Zumutungen aufoktroyieren möchte, wie der eben veröffentlichte offene Brief einer Gruppe von selbsternannten FriedensaktivistInnen an Kanzler Scholz, stellt sich selbst ins Abseits funktionierender Politik. Die Welt funktioniert so einfach nicht: dass man auch noch die zweite Wange einem hinterhältigen Angreifer hinhalten könnte.