Vergessenes und geduldetes Werkzeug

Was, wenn Menschen mehr Raum und Zeit hätten, sich in der Natur aufzuhalten? Würde sich dann das eigenartige Verhältnis, das wir oft zu ihr zeigen, wandeln? Würden sich gar neue Ansätze entwickeln, wie wir als Menschen mit Herausforderungen wie dem Klimawandel oder der Umweltverschmutzung umgehen können?

Das Magazin Saiten in Interpretation des Theaterstückes „Wild“ von Andrea Schultehess

Mit welch Brutalität und Unverschämtheit der sogenannte Fortschritt die Menschheit zugrunde gerichtet hat, soll an dieser Stelle NICHT erörtert werden. Ebensowenig will ich über jene Klimakatastrophen sprechen, an die wir bereits uns gewöhnen – bis zum Untergang der Welt. Mondays for Dystopia, deklamiert die Wirtschaft und ihre Fortschrittsparteien. Das Kapital lächelt dabei arrogant.

Es liegt auf der Hand: die Sehnsucht nach dem Gegenteil unseres zivilisatorischen Hochmuts wird immer stärker. Wenn wir an Natur denken, ist sogleich naive Wildnis am Horizont, das von der menschlichen Hand Unberührte, der Urzustand auch des menschlichen Lebens. Schamanismus und Naturreligion versuchen das zu durchdringen und projizieren den Urzustand, der allerdings niemals existierte. Vielleicht vermag es allein die Kunst, die Gegenwart zu transzendieren.

Über unsere Sehnsucht gebeugt, vergessen wir zwei Dinge: (1) Dass die Natur sich immer wieder selbst verändert und neue Gestalt annimmt, wie der Fluss, der sich mit seinem Wasser ständig selbst erschafft. So ist auch der Wald ein erdgeschichtliches Konstrukt und der „Urwald“ hat nichts mit jenem Wald gemein, der uns heute als Natur begeistert. (2) Dass die Natur auch stets ein von der Zivilisation Gemachtes und Massgeregeltes ist, ein riesiger Garten und eine monströse Mülldeponie zugleich, wenn man so will.

Deshalb kann es auch niemals eine Rückkehr in den Urzustand geben. Das Paradies hat es wohl nie gegeben, es ist ein Sehnsuchtsland, dass wir zitternd und voller Verlangen beschwören. Die Epoche der Romantik hat uns das vorgezeigt und ist grandios an sich gescheitert.

Dennoch, in unseren bedingungslosen Umgangs mit der Natur mischen sich immer wieder zärtliche Töne: es gilt der Natur in uns und um uns. „Oh Wildnis, oh Furcht vor ihr“, möchte man mit Elfriede Jelinek rufen. Doch was wir hier meinen, kann auch als Achtsamkeit betrachtet werden.

Ein Bonmot besagt, dass jeder Wiener seinen Lieblingsheurigen habe, seine Adresse aber niemals verraten würde, aus Angst, auch Andere könnten ihn entdecken. So halte ich es auch mit den Plätzen draussen, die ich meist durch Zufall entdecke und die mir wie heilige Orte erscheinen in einer gefährdeten Welt. Sie will ich nicht teilen, sie will ich ganz für mich alleine und meine Zwiesprache mit Erde, Wasser, Feuer und Wind besitzen. Als mich ein Pärchen am Eingang zu meiner Lieblingsstelle überrascht, bin ich verwirrt. Kann ich Ihnen den Zugang zu „meinem“ Lieblingsplatz gewähren? Arrogiere ich mr elitäres Recht, wo doch das Teilen gefordert wäre? Vermag ich das fragile Glück mit Anderen zu teilen? Ich aber tue instinktiv alles, um sie, die zögernd den unbekannten Ort „erobern“ wollen, von seinem Wesen abzulenken.. Ich will ihn für mich alleine, für meine, fast schon religiös überhöhte Zwiesprache mit der Natur und mit mir selbst.

Memento Mori

Wer glaubt, ich spräche über unberührte Orte, der irrt. Diese Orte sind ganz offenbar nicht unberührt, sie sind von Menschenhand sorgfältig arrangiert, liebevoll gestaltet und sanft verändert. Nicht viele Wanderer gehen daran vorbei, wenige halten sich dort auf, aber unberührt sind diese Orte nicht. Wir Menschen können offenbar nicht anders als das, was wir lieben, verändern. Das macht aus uns eine prekäre Lebensform. Doch es sind die zarten Eingriffe, von Ehrfurcht und Verständnis getragen, welche den Gegensatz zwischen (scheinbar) Natürlichem und bewusst Arrangiertem betonen. Sie tun es in einer Weise, die ich als zärtlich bezeichnen möchte.

Auf meinen Streifzügen im Canton Thurgau und seinen angrezenden Landschaften stosse ich wiederholt auf diese Orte. Ich staune immer wieder über die dort aufgefundenen Steinarrangements, Mandalas, Feenhäuser, Feuerstellen, Windspiele, Kunstobjekte, Blumenkränze, Tierverbisse. Das sind achtsame Arrangements, bestimmt für die Vergänglichkeit. Das subtil Gemachte hier unterstellt, dass es Wichtigeres und Machtvolleres gibt, als den profanen Gestaltungswillen, der sich überlegen fühlt. Der Wind bewegt das Windspiel, der Regen verzerrt das Mandala, die Sonne lässt die bunten Stoffe am Strauch verbleichen. Langsam rostet die Schüssel am Ufer des Baches. Ein verwitterter Steig entlang des Gerinnes zeugt davon, dass man gewillt ist, ihn auch verwittern zu lassen. Das Recht auf Vergessen der Natur zurückgeben, seine eigenen Hervorbringungen verbleichen sehen: das ist es, wovon ich sprechen möchte, wenn ich es nur angemessen könnte.

Dass alles vergänglich ist, mag eine Binsenwahrheit sein. Dass man dem Vergehen auch zusehen mag, das erfordert jedoch Entschlossenheit und Mut. Im Mittelalter war das Memento Mori allgegenwärtig: „Sei dir der Sterblichkeit bewusst“. „Handle danach“, möchte man im selben Zug ergänzen. Auch Carlos Castaneda erzählt vom Schamanenschüler, der seinen Herren fragt, wo denn der Tod zu finden sei. Er sitzt auf deiner Schulter, belehrt ihn dieser. „Du brauchst nur den Kopf zu drehen, um ihn zu sehen.“ Vielleicht aber ist das Vergängliche das geheime Wesen der Natur. Wir können es nur erkennen, wenn wir gewähren lassen. Der Tod stellt sich dann wie von selbst und ohne Schrecken ein.

Die Vergänglichkeit der Natur und des Menschen feiern