Für meine Oma, eine begeisterte Wanderin, die in der Zeit der austrofaschistischen Diktatur in Österreich an den sogenannten "Sonntagsspaziergängen" der Sozialdemokraten teilgenommen hat.

Herr Grünberg, dessen Reportagen ich gerne lese und von denen es mir insgesamt zu wenige gibt, hat wieder veröffentlicht. Auf seinem Blog postet er einen von Artikel für das Greenpeace-Magazin unter dem Titel Natur im Freizeitstress. Er beschreibt die Konflikte, die durch die Nutzung der verwalteten Natur durch die Freizeitgesellschaft entstehen und wie sie sinnvollerweise neutralisiert werden können. Der Artikel hat mich, vorweg gesagt, enttäuscht. Die Kritik folgt auf dem Fuss.

Das Unterfangen, das Herr Grünberg betreibt, ist pseudodemokratischer Natur. „Allen Recht getan“ soll gelten in der Natur; Interessensgruppen an den Tisch! Die Jäger, die Jugendlichen, die Mountainbiker, die Outdoorenthusiasten, die Umweltbeauftragten und wie sie alle heissen mögen. Conflict resolution als Heilmittel? Indes: Die Natur selbst hat keine Lobby, der Mensch versteht sie aber nicht mehr, deshalb schlägt sie immer häufiger zurück. Das ist so offensichtlich, dass hier nicht mehr argumentiert werden braucht.

Die von Grüneberg so eloquent artikulierten Vokabel wie Outdoortrend und Nutzungsdruck verdecken leider den Konflikt, der auch in dieser Teilrealität unseres Planeten wütet. Diesen formuliert allerdings Extinction Rebellion in aller Radikalität: Leben oder Tod! Doch so weit darf man wohl auch in einem Magazin wie Greenpeace noch nicht gehen. Denn für dieses schrieb Herr Grünberg einen kritisch-milden Artikel, den jeder unterschreiben kann. Vertrauensbildend wirken, Aufgeschlossenheit erwirken, vorsichtig mit Beurteilungen sein: das scheint als medienpolitische Devise zur Rettung der Menschheit zu gelten. Aber gibt es die Zeit noch? Noch ist alles machbar, Herr Nachbar. Zwanzig nach Zwölf ist den Einäugigen immer noch früh genug. Den Blinden ist man schliesslich weit voraus.

Radex, radicis!“ hat mein verehrter Lateinlehrer, Herr Dr. Pavlicek, vor 50 Jahren bei solchen Gelegenheiten deklamiert und uns (immer ungeduldig auf seinen Zehenspitzen wippend) die historische Genese eines Problems bis zurück in die Antike erklärt. Das war wichtig, aber uninteressant für die meisten Banausen in der Klasse. Was dem engagierten Lehrer egal war, denn er hatte nur den Humanismus im Blick. Er durchlebte seine Wahrheit, unbarmherzig und in aller Eloquenz. Bei solcher Gedankenschärfe schmerzte es im Kopf der Zöglinge. Heute liebe ich ihn dafür.

Vom kollektiven Desinteresse gehe ich aus, wenn ich den umweltpolitischen Diskurs der Wohlmeinenden kritisiere. Die Menschheit hat sich (macht- und kirchenpolitisch manipuliert) die Natur unterworfen und sie in aller Konsequenz und bar jeder Verantwortung zu Grunde gewirtschaftet. Im selben Zuge werden heute logischerweise ihre marginalen Reste als Ort der Entspannung und zur Leibesertüchtigung der sgn. Leistungsträgerinnen benötigt. Das war einst so und gilt heute nur noch mehr. Die Kulturpolitik der Sozialdemokratie und der Nationalsozialisten gingen im 20. Jahrhundert in dieser Hinsicht geschlossen voran. Der stramm gemachte Geist in einem gesunden Körper, die Reihen dicht geschlossen, Kulturrevolution voran im Bunde mit ideologisch fundierter Naturtümelei und Enzian am Revers. Es kam auch Faschismus in Frage: das war von Familie zu Familie verschieden. Eichenlaub und natürliche Selektion – wozu wurdest du, geliebte Natur, denn noch alles missbraucht! Auf zum Heilkräutersammeln in die Umgebung Wiens, hiess es dann in letzter Konsequenz für den Bund Deutscher Mädchen und Teile meiner Familie. An der Front in den zerstörten, verbrannten und devastierten Landstrichen starben indes Millionen auf der ganzen Welt. Zuhause in Wien und anderswo mischte man (notgedrungenerweise) naturbasierte Heilsalben für grauenvolle Kriegswunden. Vorbei die Zivilisation, alles war grausame menschliche Natur, das als Kriegsschicksal verkauft wurde.

Achtzig Winter danach sind wir in einem prekären Frieden in Europa angelangt, mit populistischem Getöse und erregten Verschwörungsapologeten. Die Natur ausbeuten und missverstehen tun noch immer, allerdings viel effizienter und nachhaltiger als in totalitären Zeiten. Der Zwang zum Körperkult ist mittlerweile in unserem Inneren angelangt. Nicht mehr gezwungen oder verführt werden muss man zu seiner Ertüchtigung, das tun wir schon in aller dumpfer Freiwilligkeit von ganz allein. Stramm marschieren wir, für unseren Beruf und den prächtigen Körper, als wohltrainierte Arbeitsbiene im lichten, vom Borkenkäfer verseuchten Wald. Wie immer wir es auch verbrämen wollen: als gesundheitspolitischen Akt, als sonniges Wohlfühlen, als esoterische Naturbegegnung, als medidative Erfahrung, als sportliche Ertüchtigung oder auch als Selbstfindung – es geht auf Kosten der Natur. Das Ich steht immer im Mittelpunkt, das Andere kann gern vernachlässigt werden. In Flora und Fauna geht es mittlerweile drunter und drüber, die Lebewesen wissen nicht mehr, wie ihnen geschieht. Doch wen kümmert das? Den Blick auf das Ziffernblatt der Fitnessuhr geheftet, strampeln wir uns ab, treten nach unten, sehen weder nach links oder rechts, atmen in den hämmernden Herzschlag, berauschen uns an den eigenen Endorphinen.

Betrübt ob solcher Einsicht blicke ich auf. „So schaut’s aus„, hat bei diesen Gelegenheiten eine weitere wichtige Bwezugsperson in meinem Leben, Herr Dr. Kurt Ostbahn, gesagt. So schauts aus, und passts auf auf euch! Dann betrank er sich bis zur Besinnungslosigkeit und sang seine wehmütigen Lieder: An Schritt Vire, zwa zurück!

Natur erscheint mithin als eine für jederfrau verfügbare Ressource, an der wir unsere vermeintliche Individualität ungehemmt ausleben dürfen. Es gilt die gerade wohlfeile Ideologie von der Gesundheit in Freiheit zu feiern, ohne Rücksicht auf Verluste. Im Büro müssen wir willig lächeln, draussen im Wald können wir dafür toben wie die Berserker. Das Wild flüchtet im Dauerlauf, über Kilometer, wenn es der Wald das noch leisten kann. Wohin wir auch blicken, gibt es nicht nur die Zerstörung der Lebenswelt, sondern auch eine eigenartige hektische Betriebsamkeit in der überdimensionalen Turnhalle Natur. Die Pandemie hat uns in aller Deutlichkeit gezeigt: Ruhe ist draussen zu keinem Zeitpunkt mehr, da ist es in der Wohnung wohl stiller. Da drückt die Einsamkeit, draussen höchstens der schlecht sitzende Joggingschuh. Wurden die Tiere im Wald früher wenigstens noch während einer Arbeitswoche in Ruhe gelassen (sieht man von den Zumutungen der Land- und Forstwirtschaft einmal ab), so rennt, keucht, ächzt und quält sich die Bevölkerung in aller betrieblichen Autonomie des Home Office draussen ab und unterzieht Tier und Pflanzenwelt der speziellen Tortur Mensch. Auch in der Freizeit beuten sie wir aus, bis zum Geht nicht mehr. Alles zum Wohle der Gesundheit und Fitness und selbstverständlich in aller Naturliebe. Letztere steht freilich auf tönernen Beinen, denn wissen tun die Leute nur wenig über ihre Umwelt. Meist sind es „Eh schon wissen Wahrheiten„, die strapaziert werden, wie sie uns immer wieder eingebläut wurden von allen möglichen und unmöglichen AgentInnen der vermeintlichen Nachhaltigkeit: „Hunde an die Leine, Lärmen unterlassen, Bewegung in freier Natur ist gesund, Wege nicht verlassen, Müll mitnehmen, Zigarettenkippen nicht wegwerfen! Am Abend den Wald vermeiden!“ Solch intellektuelle Mindeststandards werden sogar auf Video produziert. Besser als gar nichts, meinen die Institurionen der Volksbildung. Verblödungsvideos sind sie aber, mehr zur Beruhigung als zur Aufklärung produziert. Das soll Naturwissen und Wissen über sich selbst in dieser Welt sein, fragt sich der Humanist und Denker. „Radex, radicis!“, hätte Dr. Pavlicek hier wieder ungeduldig und aufbrausend gerufen, danach lobend auf einige wenige Jugendliche und einige wenige Wissenschafter verwiesen, die nicht aufhören können, die Wahrheit zu verbreiten über die Verwüstung unseres Planeten. Greta hat Recht und weil sie Recht hat, tut sie vielen weh, die nichts anderes zu tun wissen, als aggressiv zu sein. Autistischer Fratz, so was auch! Sport täte ihr gut, allemal, und regelmässige Bewegung an der frischen Luft. Wir, die geistig Eingesulzten sind indes pumperlgsund und unser Autoimmunsystem übersteht neben der Pandemie wohl auch mit Leichtigkeit den globalen Kollaps.

Zu den Wurzeln zurück also und zu den bitteren Wahrheiten: Dass etwa das Prinzip der gedankenlosen Nutzung aller natürlichen Ressourcen so in uns verankert ist, als wär es es ein Naturgesetz. Dass eine weithin gelebte Ethik von Nachhaltigkeit erst in den Kinderschuhen steckt und die ethische Verwahrlosung einer regellosen Gesellschaft munter voranschreitet. Dass uns wohl erst die Furcht vor dem globalen Supergau beigebracht werden muss, denn fürchten tun wir uns nur vor uns selbst und dem neidischen Nachbarn. Dass die Knappheit an Natur und konsumfreien Orten dem allgemeinen Wunsch nach Ruhe und Entspannung nie und nimmer gerecht werden kann. Dass man ganze Landstriche zusperren müsste, um sie vor dem Menschen zu bewahren. Dass Milliarden in die Renaturierung der zubetonierten Gewässer investiert werden müsste. Dass wir hingegen nur schwer zurückfordern können, was wir schon zerstört haben. Dass unbedingt Verzicht geleistet werden muss, genauso wie Zurückhaltung und Achtsamkeit. Dass die freie Nutzung der Natur nicht heissen kann, seinen Impulsen und seinem Freiheitswahn freien Lauf zu lassen.

Die Liste der Wahrheiten ist lang und schmerzhaft, da hilft aucht kein Bürgertisch zum Wohle des Waldes. Geredet wurde schon so viel, gehandelt viel zu wenig.

Davon sollte eigentlich die Rede sein, Herr Grünberg, wenn wir von der Natur im Freizeitstress sprechen wollen. Unser Platz in der Natur ist bedroht, weil sie gerade kollapiert. Der Platz für die Natur muss erst wieder gewonnen und gewährleistet werden, von den Menschen ist er rückhaltslos zu räumen. Betretungsverbot, Rückzug also! Dann ist Platz für sie.

In aller Radikalität: Radex, radicis! Verhandeln hilft nicht mehr und gutwillig-naiv schreiben ebenso nicht. Denn radikal zu sein, heisst auch, die Dinge beim Namen zu nennen.