Kinderspiele: Peter Breughel d.Ä.

Bagage:
* aus der französischen Sprache übernommene Bezeichnung für Gepäck;
* im 16. und 17. Jahrhundert den Tross eines Landsknechtheeres;
* (davon abgeleitet abwertend) Gesindel, Pack;
* einen Roman der österreichischen Autorin Monika Helfer.

Wikipedia

Ich lese mit wachsendem Interesse im Buch von Monika Helfer. Und wieder hole ich das alte Familienbild aus den frühen Sechzigern hervor, das ich hier schon einmal besprochen habe und betrachte es genauer: Urgrossmutter, Mutter, Vater, Onkel, Cousin und ich selbst, alle an einem Sommertag im Garten meiner Urgrossmutter, es muss im Sommer gewesen sein, Ende der Fünfzigerjahre. Aufgenommen wurde das Bild von meiner Grossmutter. Ich lächle: Das ist meine Bagage! Nein, das Bild werde ich selbstverständlich hier NICHT zeigen. Zu kostbar sind mir die analogen Bilder, als dass ich sie den digitalen Resteverwertern in der Cloud überlassen würde.

Eine Bagage war sie wohl, meine Familie, gekennzeichnet von Armut, schwerer Arbeit und gesellschaftliche Deklassierung. Erst in der vierten Generation konnte einer von ihnen eine „richtige“ Schule (also ein Gymnasium – ich verwende hier die Begrifflichkeit von Monika Helfer) besuchen und letztendlich die Universität. Und genau dieser darf nun über seine Bagage schreiben. Er tut dies mit Zuneigung und Distanz.

Wahrscheinlich ist meine Familie von ihrer näheren Umgebung nicht als Bagage bezeichnet worden: zu anonym ist das Leben in der Stadt schon damals gewesen, als dass man uns so genau beobachtet hätte; zu unbedeutend war unser Status, als auf uns aufmerksam zu werden. Wir wurden eher als Gesamtheit einer Wohnpopulation in die Kategorie „Gesindel“ gesteckt und die Nachkommen der Austrofaschisten bezeichneten Leute, wie wir es waren, als „rote Brut“. Bis heute tun das gewisse Politiker der ÖVP. Ich empfinde das als Auszeichnung. Aber wer waren wir wirklich?

Die strenge und unnahbare Urgrossmutter, die aufgrund der Armut in Südböhmen als „Ziegelböhmin“ Ende des 19. Jahrhunderts mit ihrem Mann nach Wien gezogen war: Sie hatte am Rande von Wien (durch welchen glückhaften Zufall auch immer) ein Grundstück erworben und zum Gemüsegarten umfunktioniert. Mit seinen Früchten hat sie ihre Familie durch die Notzeiten zweier Weltkriege gebracht; die Grossmutter, welche in der Zeit des Austrofaschismus von den Schergen des Schuschnigg-Regimes verfolgt wurde und nach dem Tod ihres Mannes (Lungentuberkulose) Wicklerin in einer Schokoladenfabrik wurde; meine Mutter, die ihr Leben lang am Trauma der Bombenangriffe auf Wien gelitten und sich trotzdem als alleinerziehende Mutter stolz und unabhängig durchs Leben geschlagen hatte. Sie war die erste Angestellte in der Familie, welch unvorstellbarer Aufstieg! Mein Onkel, ein Hilfsarbeiter bei einer Küchenfirma, der die Freizeitverpflichtungen der Hitlerjugend immer verschämt als seine beste Zeit bezeichnet hatte; mein Cousin, der sein damals illegales Schwulsein ein Leben lang verstecken musste und schliesslich von einem Polizisten in einer Tiefgarage erschossen wurde; ein Erpressungsfall im Schwulenmilieu. Mein Vater, von dem später die Rede sein soll.

Ich stand mitten unter ihnen auf dieser Photographie, fünf Jahre alt, ein wenig verloren und einsam, die Mutter fliehend. Ich hätte alles werden können und auch nichts.

Nicht ohne Grund habe ich nach der jüngsten Lektüre von Monika Helfers Romanen „Die Bagage“ (Hanser, 2020) und „Vati“ (Hanser 1921) dieses Familienfoto hervorgezogen und mich in meine Familiengeschichte versetzt. Ich dachte dabei nach, mit welchen Problemen man wohl zu rechnen hätte, würde man die eigene Familiengeschichte schreiben wollen. Je länger ich über meine Bagage nachdenke, desto mehr fällt mir über sie ein, desto mehr fühle ich, ein Produkt ihrer Geschichte(n) geworden zu sein.

Ich denke: Alle Versuche, die Erinnerungsfetzen, die Faktizität, die überlieferten Fotos und Briefe zu einer Familiengeschichte zusammenzufassen, sind im Grunde zum Scheitern verurteilt. Es ist wohl unmöglich, das Leben meiner „Bagage“ in chronologischer Manier zu erzählen. Denn ein seriöser Chronist benötigt immer ein gewisses Mass an Distanz zu den Ereignissen und Personen, er braucht zudem Nüchternheit und Objektivität – alles Eigenschaften, die einem schreibenden Familienangehörigen nur unter grossen Schwierigkeiten zur Verfügung stehen. Nicht etwa, dass einer stringenten Geschichte allein die vorhandenen Lücken, die falschen Interpretationen und unsicheren Vermutungen entgegenstehen! Bestenfalls Fragmente können entstehen, Skizzen, Andeutungen: aber auch kleine, unbewusste Lebenslügen, weil sich gerade die eigene Familiengeschichte so gut eignet für das „Zurechtrücken“ des eigenen Lebens. Als persönlich Betroffener schwenkt das Denken immer zwischen der Faktizität des Erinnerten und den zutiefst persönlichen Notwendigkeiten, die Geschichten der Familie zu verarbeiten. Das Erinnerte, das Recherchierte, das in Dokumenten aufgefundene – all das löst sich letzten Endes doch in der eigenen Befindlichkeit auf. Assoziationen überschwemmen das Bewusstsein und ergeben bloss Vermutungen und Zweifel.

Pressefoto aus dem Indochinakrieg: Gefangener Vietminh mit französischen Söldnern. Wikimedia Commons.

Als ich vor Jahren versuchte, den Lebenslinien meines Vaters zu folgen, versank ich bald in den Wirren des ersten Indochinakrieges, der 1945 bis 1954 dauerte und mit dem Abzug der französischen Kolonialtruppen aus Indochina endete. Mein Vater war als 16jähriger von den französischen Besatzungstruppen in Deutschland in die Französische Fremdenlegion gepresst, dort zum Scharfschützen ausgebildet und als solcher in Indochina und Algerien „eingesetzt“ worden. Schon 1946 landete er mit einem Truppentransporter in Tonking und nahm dort an der ersten Strassenkämpfen gegen die aufständischen Vietminh in Haiphong teil. Über den Verlauf der Kämpfe, an denen er teilgenommen hatte, halbwegs geradlinig und nüchtern zu berichteten, scheiterte daran, dass ich den liebevollen erlebten und früh verstorbenen Vater als Teil einer Vernichtungsmaschinerie begreifen musste, mit der die alte Herrschaft Frankreichs über seine Kolonien wieder errichtet werden sollte. Plötzlich stand meine Reflexion über die Grausamkeit des Krieges zur Disposition, und liess den Nachvollzug der „Militärkarriere“ meines Vaters in den Hintergrund treten. Ich stand mit meinen gemischten Gefühlen im Mittelpunkt des Forschens – und das steht dem Chronisten nicht zu. Die Geschichte eines Teils meiner Familie verwandelte sich plötzlich in ein assoziatives Dilemma: in ein Hin- und Herspringen zwischen ermittelten Fakten, sehr persönlichen Gefühlen und und dem Unfassbaren dessen, was man Menschen durch physische Gewalt antun kann. Nur indem ich mich mit meinen sehr verwirrenden Gefühlen auseinandersetzte, konnte ich mir den Weg zu meinem Vater freischaufeln, der letzten Endes viel von seinem Mythos verlor. An einem bestimmten Punkt brach ich sogar meine weiteren Recherchen ab, zu sehr verängstigt von den möglichen Erkenntnissen, zu denen ich vielleicht gezwungen worden wäre. Die Familiengeschichte als Fragment, als gescheiterter Versuch, wenn nicht gar als Unmöglichkeit, sie literarisch zu verarbeiten. Ein Dilemma tat sich auf zwischen der Erzählung biographischer Fakten und der eigenen Befindlichkeit. Hin und her zu springen zwischen Geschichte und Gegenwart, notwendiger Objektivität und sich aufdrängenden Gefühlen, Stolz und Pein – das machte das Schreiben nahezu unmöglich. Es hat nichts Befreiendes, weil sie neues Leid entdeckt.

Dieses Dilemma zeigen auch die beiden biographischen Romane von Monika Helfer recht deutlich: die Leerstellen, die Vermutungen, das Abschweifen der Gedanken charakterisieren die Bücher sehr! Dennoch bewältigt Monika Helfer das so schwierige Unterfangen mit Bravour und grossem literarischen Können. Virtuos springt sie zwischen den Lebensbiographien ihrer Familienmitglieder aus fünf Generationen hin und her und verknüpft die Berichte über ihrer Grossmutter zur beeindruckenden Geschichte einer Frau, die trotz bitterer Armut und einem kurzen Leben zu sich und ihren Gefühlen zu stehen vermag. Wir wissen am Ende des Romans nicht viel von dieser Frau und vieles davon mag wohl durch die Erfahrungen der Autorin verfälscht worden sein. Aber dennoch malt sie ein Bild, das noch lange in uns nachwirkt. Insbesondere die Bagage ist ein Bild, bleibt ein Bild, kann nur ein nicht fertig formulierte Skizze bleiben. Die Erinnerung lässt nur Fragmente zu, Unfertiges, verfälschtes. In der Mitte des Buches verweist die Erzählerin auf die Bauernbilder Peter Breughel d. Ä. im Kunsthistorischen Museum in Wien. Dieses Bild hätte sie an ihre Kindheit erinnert. So wird es wohl auch mit meiner Kindheit sein.