Stechpalme, Schradlbaum (Ilex)

[Pegasus Projekt: Zeta Pegasi – Homam]

Manchmal führen die Wege nicht in teuflische Gefielde sondern an Orte, an denen der Aberglaube verspricht, besonders geschützt zu sein. Tatsächlich suchte ich für das zweite abzulegende Brotlaibidol einen erholsamen Ort, eine geschützte Stelle, um mich ausruhen zu können. Ich fand diesen Ort auf der Kuppe des 703 m hohen Himelriich, abseits eines häufig begangenen Wanderweges auf der Hochwacht. Ich stolperte einen kleinen Jungwald hinauf und fand auf der höchsten Stelle ein Plateau mit einem umgestürzten Baumstamm, den ich vom Schnee säuberte, um mich dort niedersetzen zu können. Warmer Tee, Brot und Verschnaufen an einem kalten Winternachmittag. Ich sass also ein wenig frierend da und sah mich um in kalter, strahlend heller Schneelandschaft. Vor mir eine weibliche Stechpalme, die mit ihren dunkelgrün ledrigen Blättern und knallroten Beeren hoch hinauf in den Himmel ragte, halb Baum, halb Strauch. Ich wusste, ich war an einem Ruhepunkt angekommen und ein zwiespältiger Friede erfüllte mich.

Ich blickte auf den Baum und war mir der Vielschichtigkeit seiner symbolischen Bedeutungen bewusst. Nur Gutes freilich weiss der Volks- und Aberglaube von der Stechpalme zu berichten. Allein schon die euphorische Huldigung ihrer Magie erscheint merkwürdig. Als Schutz vor den Waldgeistern dient sie im bairisch-österreichischen Raum und heisst dort Schrattl-/Schradlbaum; als Beschützer vor Blitzschlag und Gewitter nützt die Stechpalme wie jedes andere Dornenstrauch auch; als christliches Symbol verweist sie auf Leiden des Christus mit der Dornenkrone; Maria, Joseph und dem Kind hat es auf ihrer Flucht vor den Pharisäern Schutz geboten, indem sie sie hinter ihrem dichten Grün verbarg. Selbst die Kelten mochten der Stechpalme ihren tieferen Sinn geben, die Heiligkeit der Pflanze verschafften ihr den Platz im Ogham-Alphabet. Die Liste der magischen Bedeutungen ist lang und interessant – die Heilsversprechungen selbsternannter Heiler im Internet zur Verwertung der Pflanze vulgär und haarsträubend. Ähnlich auch der christliche Mainstream: als Schmuckpflanze des weihnachtlichen Heims ist die Ilex längst zum Plastikkraut verkommen. Was also beginnen mit dem Baum, der hier vor mir so provokant sich ausbreitet, dessen schöne Beeren gefährlich giftig sind und dessen Dornen üble Verletzungen zufügen? Ist diese Pflanze nicht bereits entzaubert, ein abgeschmacktes Stück kirchlichen Kommerzes und sinnentleerter Weihnachtsfeste? Und dennoch: Es war ein Platz der Ruhe, selbst wenn ich vor mir einen Baum wiederfand, den ich noch nie so richtig leiden konnte.

Ich sägte einen langen Ast vom Baum, konnte nicht anders, als mich an der lebenden Stechpalme zu vergreifen. Die frischen Äste würden als Unterlage für das auszubringende Brotlaibidol dienen und es ein wenig vor der Bodennässe schützen. Beim Sägen und Schneiden fiel ich in eine tiefe Entspannung. Schon immer hatte mich ihr Holz fasziniert, seine weisse Reinheit und Härte schillert unter der Schneide meines Messers, das frische Grün der jungen Rinde tut kontrastierend ihr Übriges dazu. Überhaupt: die Arbeit mit frischgeschnittenen Hölzern ist sowohl bereichernd als auch befriedigend: Maserung, Farbe, Rinde, Kambium und Härte machen einen besonderen Zauber aus für Jene, die den Wald wieder entdecken wollen. Da lagen schließlich drei Stäbe auf der Sitzmatte, geschmeidig und sperrig zugleich.

Vom Schrattlbaum leitet sich der Begriff des „Schrattlgatters“ ab. Man müsste, wie aus Tirol berichtet, dieses spezielles Geflecht aus bleistiftgrossen Spänen eines Astes herstellen und damit sein Bett und Heim schützen vor dem Ungemach nächtlicher Alpträume. 5 leichte Späne aus geweihtem Holz werden auf bestimmte Weise ineinander verschoben und gegenseitig verklemmt, sodass ein „Gatterl“ entsteht, ein Tor „im Weidenzaun“, eine für das Ungemach undurchlässige Sperre. Apotropäische Wirkung soll dieser magische Gegenstand besitzen, der Abwehr von Waldgeistern, Dämonen und Unheil dienen, die einem auf der Brust sitzen, die Luft abschnüren und unerträglichen Druck erzeugen. Der Alb sitzt nächtens auf uns, Erleichterung davon ist das Gebot der Stunde. Erst hier an der frischen Luft, der Reinheit und Kühle der Natur, wird dem Wanderer bewusst, wie unheilvoll prekär das Leben inzwischen geworden ist. Wäre da nicht letztes Jahr die Pandemie gewesen, die unsichtbar und drohend die Welt überfuhr und noch immer nicht zu Ende ist; wären da nicht die Zeichen der drohenden globalen Katastrophe unserer Erde deutlicher und deutlicher geworden; wäre da nicht die zynische Unverfrorenheit von Politik und Wirtschaft gewesen und ihr zynisch-böses Machtkalkül und ihre Tyrannei allerorten. Wäre da nicht auch lähmende Krankheit, blutiger Terror, würdeloses Altern und demütigende Todesnähe gewesen – alles hätte seinen üblichen Gang genommen. So aber sitzen dunkle Waldgeister unheilvoll auf unserer Brust und rauben uns den kindlich-naiven Schlaf, den wir so sehr ersehnen. Laut schreit einer auf oder seufzt erbarmenswert mitten in der Nacht, stöhnt im Rhytmus des schweren Atmens. Die Bürde, die alle zu auf ihrem Körpert zu ertragen haben, wird schwerer und schwerer. Womit abwehren, wie mit dem Destruktiven umgehen? Vielleicht hilft es, die bösen Geister näher zu betrachten, um sie dem Unbewussten entreissen und ihre Kraft neutralisieren zuz können. Und vielleicht ist das Schnitzen und Flechten des Schrattlgatters eines von vielen Methoden zur Steigerung unserer Achtsamkeit, zur Enttarnung des Destruktiven in unserer Welt. Es ist nicht einfach, so ein magisches Ding aus einem Stock zu schnitzen, gezielt und konzentriert zu arbeiten. Die darauf verwandte Aufmerksamkeit verscheucht die bösen Geister allemal für eine Weile. Endlich wieder ruhig schlafen zu können!!!

Recherche:

  • Wolf-Dieter Storl: Pflanzenwelt der Kelten. 2000.
  • Hanns Bächtold-Stäubli (Hrsg.): Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. 1927