Bei meinen Sondierungen rund um ein Kraftwerk am Ibach stiess ich auf ein schön renoviertes, altes, unbewohntes Holzhaus. Auf einer Tafel des Ortsverbandes erfuhr ich, dass es sich dabei um die Armenanstalt der Gemeinde Ganterschwil gehandelt hatte.

Gegründet 1837, um der allgemeinen Armut und der vielen Bettler Herr zu werden. Es wurde 1911 aufgehoben. Harte Strafen regelten das Leben der Bewohner, z.B. Art.2: „Wer gegen die Armenbehörden, den Armenvater oder die Mutter grob oder ungehorsam ist, oder sie gar schimpft oder lästert, wird je nach Umständen durch Ausschliessen an dem Platz von 2 bis 8 Tagen und nöthigfindendenfalls mit wenigstens 4 Streichen mit dem Ochsenziemer Hagaschwanz gezüchtigt“.

Informationstafel am entsprechenden Haus in der Gemeinde Ganterschwil

Ein ungewöhnlich grausamer Inhalt, mit einem leicht sadistisch und paternalistisch geprägten Unterton vorgetragen: „um der vielen Bettler Herr zu werden.“ Was aber hat es mit diesen Häusern auf sich, die in der gesamten Schweiz verstreut sich finden lassen?

Armenanstalten entstanden in der Schweiz im 19. Jahhundert und bestanden bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein. Ich stehe vor einem jener Häuser, die in der regionalen Geschichte eine wichtige Rolle einnehmen und in denen Fürsorge und Zwang ein enges Bündnis eingehen sollten. Sie gehörten zu den wichtigsten und effiizientesten Institutionen einer kirchlichen und später säkularen Armutspolitik der Schweiz. Sie sind, mit Verlaub, aus heutiger Sicht ein Fanal lokal organisierter Gewalt. Nicht nur ein Unterkommen für Verarmte und ihr Wegsperren sollte hier von der jeweiligen Heimatgemeinde organisiert werden, sondern auch eine entsprechende „Beschäftigung“ wurde zwangsverordnet: der notgedrungenen Regellosigkeit und dem unschönen Anblick des Bettlerlebens wird versucht, einen Riegel vorzuschieben. Das ging nicht ohne weitere Opfer der ohnehin schon Deklassierten ab: bei (Zwangs-)eintritt wurden die künftigen Insassen ihrer letzten Habseligkeiten beraubt und zu rechtlosen Individuen unter der Aufsicht von „Armenvater“ und „-mutter“ gemacht. Das Ziel der Anstalten war Wegsperren und Zwangsarbeit, „sittenlose“ Zustände sollten getilgt und gleichzeitig der Industrie, dem Gewerbe und der Landwirtschaft nötige Arbeitskräfte zugeführt werden. Kinder störten diese Bemühungen bloss: um die entstehenden Kosten der Festsetzung für die Heimatgemeinden niedrig zu halten, zerriss man Familien, sprach Heimatrecht ab und verbot den Zutritt für Kinder, auch für jene der Insassen. Ein trauriges und empörendes Kapitel der Schweizer Sozialfürsorge, eines, das bis heute nicht umfassend aufgearbeitet wurde.

Armut ist ein Phänomen, dem ich auf meinen historischen Streifzügen durch die Landschaften der Ostschweizer Kantone immer wieder begegnen sollte. Die Hungerkrise Europas 1771, die die Ostschweiz besonders hart betroffen hat und die grosse Hungersnot von 1816/17 sind dafür nur exemplarische Beispiele. In den Berichten darüber fällt oft die Hilflosigkeit auf, mit der heutige Generationen dem weitverbreiteten Phänomen des 18. und 19. Jahrhundert begegnen. Denn wer vermag heute schon die bittere Armut und den ständigen Hunger von Menschen verstehen? Armutsphänomene sind derart aus dem Blick der Gesellschaft verdrängt worden, sodass sie allerhöchstens als Kuriosum oder selbstverschuldete Not zur Kenntnis genommen werden. Die Pandemie aber hat Armut nur noch mehr beschleunigt. Schon 2017 hält die Schweizer Gewerkschafterin Barbara Kern fest:

Ende Jahr waren in der Schweiz insgesamt 615‘000 Personen von Armut betroffen. Dies entspricht einer Steigerung von 7,0 auf 7,5 Prozent in vier Jahren. Dem zu Folge ist jede achte Person in der Schweiz von Armut betroffen. Insbesondere betroffen sind, Alleinerziehende, Personen ohne Ausbildung und Erwerbslose. 140.000 Männer und Frauen leben trotz Erwerbstätigkeit am Existenzminimum. Die grössten Armutsrisiken sind der Verlust der Arbeitsstelle, Familien mit Kleinkindern sowie Trennung und Scheidung.

Einfache Anfrage Kanton Thurgau. Barbara Kern. 2017

Doch zurück zur Geschichte. Gerne werden armen und hungernde Menschen in die Kategorie des ländlichen Lumpenproletariats, der Gauner, Schurken und Verbrecher gedrängt, die aus den unterschiedlichsten Gründen unverschämt in den Landschaften der Schweiz aufgetaucht waren: nutzlos, störend, aber offenbar unaufhaltsam. Weil die Heimatgemeinden für den Unterhalt „ihrer“ Bettler verantwortlich waren, wurden von anderen Gemeinden regelrechte Jagden auf „Frömbde“ unternommen. Gefangene Bettler wurden auf Fuhrwerken in ihre Heimatgemeinden zurückgebracht, zum Teil auch gebrandmarkt. Bettler ohne Heimatrecht hatten dabei besonders zu leiden. Sie wurden als Kriminelle behandelt und in die Rechtlosigkeit gedrängt. Das Armutsgesetz des Thurgaus aus dem Jahre 1712 formuliert:

„Jede Gemeinde soll ihre Armen selber erhalten und nicht auf andere laufen lassen. Wer oder wessen Weib und Kind das Almosen nehmen, sollen an keine andere Gemeind gelassen werden. Starke Bettler, Strolche, Heiden, Zigeuner und Landstreicher soll man allen Orten abschaffen, sie zurück wieder aus dem Land weisen, und wenn sie renitierenoder mit Diebstahl sich vertraben, dieselben abprügeln, auf die Galeeren schicken, peinigen oder gar hinrichten.“

Napoleonturm Hohenrain: Hunger

Wer verarmte Menschen jedoch auf ihre Kultur befragen möchte, der bleibt sehr oft in der Beschreibung ihres Elendszustandes befangen und lässt ihnen die Kultur der Armut angedeihen. Die höheren Weihen der Geschichte bleiben ihnen verwehrt. Kulturgeschichte ist die Geschichte der Kultur von Einflussreichen und Wohlhabenden. Denn die Armen und Bedürftigen haben keine Geschichte. Sie schreiben, bis auf seltene Ausnahmen, ihre Geschichte nicht selbst. Die Satten und Gebildeten berichten über sie. Die Armen müssen deshalb wohl auch anders sein: kulturlos erscheinen sie in jedem Fall. Unverständnis und exotistische Neugier spricht auch aus heutigen Medienberichten über verwunderliche Ausnahmen in unserer Geschichte. Wie können Menschen, die ihr Leben lang in bitterer Armut verbracht haben, denn auch noch schöpferisch tätig sein? Brauche man denn nicht sorgfältige Bildung und Erziehung, um das zarte Pflänzchen der Kultur zum Wachsen zu bringen? Braucht nicht Kultur auch kulturelles Leben oder gar Kulturvermittlung? Muss denn nicht auch ein gewisses Grundvermögen und Talent vorhanden sein, um kulturell aktiv zu werden? Arme haben nichts und damit auch keine Kultur, basta!

Kunst und Kultur ist in den demokratisch liberalen Gesellschaften von heute längst zum sozialen Unterscheidungsmerkmal geworden, mit dem sich die Eliten vom konsumorientierten Pöbel absetzen. Geld hat einen ordinären Zug, Kunst soll es vergolden. Kaum ein Politiker, Unternehmer oder anderswie Erfolgreicher will mit seiner Kulturbegeisterung hinterm Berg halten. Sie ist zum Statussymbol geworden, das den Armen nicht zusteht. Vom Hunger auf Kunst und Kultur eines demokratisch verfassten Volkes wollen kulturaffine Gemütsmenschen lieber nichts wissen. Lieber erbauen sie sich an den sgn. „Ausnahmen“ im Heer der Armen des 18. und 19. Jahrhunderts: den Kreativen, die heute von den Besitzenden um teures Geld gehandelt werden. Beim Glas Rotwein wundert sich die illustre Runde dann: „Wie war denn diese Kreativität möglich, bei solch armseligem Leben?“ Es muss die Muse geben und sie küsst wohl manchmal irrtümlich die Falschen.

Der Vorhang geht auf und zwei Künstler betreten die Bühne. Babeli Giezendanner etwa, die heute teuer gehandelte Bauernmalerin aus dem Toggenburg des 19. Jahrhunderts. Aus schierer Not schuf sie ein grossartiges Werk. Jedes ihrer „Bildli“ ist heute ein Schatz. Armut machte sie zur Meisterin! Wie kann man, fragt man sich bei diesen Zeilen, derart heuchlerisch mit einem vermuteten „Genius der Not“ argumentieren? Worüber wundert man sich hier? Dass eine alleinstehende Frau neben der Handweberei auch Stifte und Farben zum Überleben ihrer Familie nutzt? Dass sich rechte Politiker und Millionäre wie Christoph Blocher an ihren Bildern volkstümlich erbauen? Dass arme Menschen auch Umgang mit Kultur pflegen? Spricht nicht aus dem Exotismus der eigenen journalistischen Haltung das Ressentiment der Halbbildung? Das schmale Einkommen durch die Landschaftsbilder, die Frau Giezendanner um einen Bettel an wohlhabenden Bauern verkaufte, konnte sie nicht vor dem traurigen Ende ihres Lebens retten. Sie malte den Abgesang des Bäuerlichen, den man sich gern in die hübsche Stube hängte. Auch der Handweberei, die sie wie viele im Toggenburg nachging, langte nie: Babeli Giezendanner starb im 74. Lebensjahr in einer der berüchtigten Armenanstalten des Toggenburg: jener von Hemberg, genannt Im Bächli.

Ähnliches erfahren wir beim „Armen Mann aus Tockenburg“ des 18. Jahrhunderts, dem Schriftsteller Ulrich Bräker, der heute in geschmäcklerischen Genrebildern an Originalschauplätzen sehr zum Genuss des satten Publikums las Theater aufgeführt wird. Enthusiasmiert berichtet hallowil: „Die Szenerie vor dem alten Sennenhaus in der Dreyschlatt bei Krinau füllte sich fast zwei Spielstunden lang mit prall lebendigen Bildern. (…) Schon die abenteuerliche Fahrt auf der bedrohlich steilen und schmalen Strasse gegen die Dreyschlatt hinauf hat es in sich. Du verlässt das immer noch städtisch wirkende Lichtensteig und befindest dich nach wenigen Kurven in einer völlig anderen Welt“. Welch platter Exotismus!

Wie so oft sagen die Geschichten, die heute erzählt werden, mehr über die geistigen Haltungen der Geschichtenerzähler aus als über jene, über die sie erzählen. Auf der Homepage seiner Heimatgemeinde Wattwil steht noch heute zu lesen: Bräker verbrachte viel Zeit in der Welt des Lesens und Schreibens, um von den alltäglichen Sorgen zu flüchten. Die Unterstellung, er hätte sich verantwortungslos der Schriftstellerei gewidmet anstatt für den Unterhalt seiner Familie zu sorgen, liegt da nicht mehr ferne. An Schreibsucht habe der Autor gelitten, gerne wird da aus der Vorrede des Autors zitiert, er sei auch von einem ständigen Zwang zur Selbstrechtfertigung getrieben worden. Als sei der Zwang zum Schreiben nur der bürgerlichen Bohéme angemessen. Thomas Mann würde man Derartiges nie zuschreiben, denn er gestaltet; Ulrich Bräker hingegen sei bäuerlich-plebejischer Herkunft (Klaus-Detlev Müller). Hier kommt ganz unverblümt die Abneigung gegen die Kunst des Hungerleiders zum Ausdruck.

Hungertafel im Toggenburgmuseum Liechtensteig: Merkwürdige Beschreibung der beispiellosen Theuerung des Jahres 1817

Die Armut als Konstante der Gesellschaften, in denen wir existieren und in denen auch unsere Vorfahren gelebt haben: sie liegt, das wissen wir seit Karl Marx, in der Akkumulation des Kapitals bei einigen Wenigen begründet, die den anderen Teil der Menschen zu Mittellosen macht. Armut gebiert dabei ihre eigenen Ideologie aus Demut und Gottergebenheit. Mit Unbehagen erinnere ich mich an meine Mutter, die wie so viele weibliche Alleinerziehende von finananziellen Nöten geplagt war, aber ihrem Sohn moralisch Erbauliches auf den Weg geben wollte: Armut sei gewiss keine Schande, sagte sie. Wer sich ständig reinlich halte und nicht vom rechten Weg abbringen lasse, der könne ein geachteter und stolzer Armer werden. Und Bildung sei der Weg, sich selbst aus der verschuldeten Armut zu führen. Nutze die Jahre, lerne und spare! Dass meine Erfahrungen in der Schule jedoch eine völlig andere Realität abbildeten, steht auf einem anderen Blatt. Hier war derjenige, der auf Besitz bauen konnte, in unzweifelhaften Vorteil und hatte das Sagen. Das Fortkommen war gesichert wie von unsichtbarer Hand. Die Armen würden bis auf wenige Ausnahmen straucheln.

Diese nicht aufbegehrende und sich bescheidende Ideologie der Armut spricht auch aus dem Werk Ulrich Bräkers: sie beruhigt denjenigen, der sich erregen sollte und sucht den Grund an seinem Zustand bei sich selbst. Im ersten Kapitel seines Buches räsonniert er über diesen Grundzug seines Lebens: die Kultur des Opfers zu zelebrieren. Das ist, was ihm vielleicht auch vorzuwerfen ist, doch wer möchte ihm den Rest an künstlerischer Würde nehmen?

Ihr seht also, meine Kinder, dass wir nicht Ursache haben, ahnenstolz zu seyn. Alle unsere Freunde und Blutsverwandte sind unbemittelte Leuthe, und von allen unseren Vorfahren habe ich nie nichts anderes gehört. (…) Ich weiss, dass mein Grossvater und desselben Vater arme Leuthe waren, die sich kümmerlich nähren mussten; dass mein Vater keinen Pfennig erbte; dass ihn die Not sein Lebenlang drückte, und er nicht selten über seinen kleinen Schuldenlast seufzte. Aber deswegen schäm‘ ich mich meiner Eltern und Voreltern bey weitem nicht. Vielmehr bin ich noch eher ein bisschen stolz auf sie. Denn, ihrer Armuth ungeachtet, hab ich von keinem Dieb, oder sonst einem Verbrecher den die Justitz hätte strafen müssen, von keinem Lasterbuben, Schwelger, Flucher, Verleumder u.s.f. unter ihnen gehört; von keinem, den man nicht als einen braven Biedermann musste gelten lassen; der sich nicht ehrlich und redlich in der Welt nährte; von keinem der betteln gieng. Dagegen kannt ich wirklich recht manchen wackern, frommen Mann, mit zartem Gewissen. Das ists worauf ich stolz bin, und wünsche , dass auch Ihr stolz darauf werdet, meine Kinder! Dass wir diesen Ruhm nicht besudeln, sondern denselben fortzupflanzen suchen.

Ulrich Bräker: Der arme Mann im Tockenburg.

Recherche:

  • Bräker, Ulrich: Der arme Mann im Tockenburg: Lebensgeschichte und Natürliche Ebentheuer des armen Mannes im Tockenburg.
  • Hunker, Thomas: Hinweise zur Geschichte der Armenhäuser in Deutschland und der Schweiz. 2017 (-> download pdf)
  • Napoleonturm Hohenrain: Hunger.