
Die Geschichte von Gegenständen kann mitunter sehr erhellend sein. Wir vergessen oft, dass sie eine haben. Aufbewahrt werden Gegenstände heute meist nur, wenn sie einen materiellen Wert besitzen. Die Welt ist so voll mit Dingen, dass wir ständig alles erneuern müssen: schnell altern die Dinge und landen im Müll. Manche überleben trotzdem. Aber Gegenstände sind nie blosse Dinge! Meist atmen sie die Seele und das Schicksal ihrer Besitzer und Nutzer. Die Geschichte ist durch sie hindurch gegangen, sie altern und legen Patina an. Das trifft auch für Bücher zu, meist auf eigene Weise. Sie sind aufgeladen mit den Gedanken der Autoren, der Leser, der Besitzer. Die Geschichte, die heute erzählt werden soll, ist die eines Buches und voller Sentiment:
Meine Lebensgefährtin besitzt ein Kochbuch aus dem Jahr 1956, das ihr von ihrer Mutter überlassen wurde. Man darf sich dabei nicht eines jener hippen Kochbücher vorstellen, die heute den Markt überschwemmen, mit perfekten Bildern, peppigen Texten und oftmals fragwürdigen Rezepten. Diese erwecken den Anschein, als wären sie nur dazu da, um gelangweilte HobbyköchInnen zum Kauf von möglichst exotischen Lebensmitteln zu verführen. Das wars dann. Denn die globalisierte Welt verdammt zu globalisierten Bedürfnissen, auch wenn sie auf Kosten der Umwelt gehen: Avocado, Banane, Mango und Garnelen lassen grüssen. Das Kochhandwerk beherrscht ohnehin niemand mehr. Die Mikrowelle wärmt das Take Away: Abend für Abend. Man ist modern und hat keine Zeit. Nur der begeisterte Hobbykoch macht sich noch in der Küche breit, hinterlässt aber oft ein Schlachtfeld an Sinnlosigkeiten: charakterlose Speisen, schmutzige High End Küchengeräte, verpatzte Träume vom Kochexperten. Netzplantechnik? Keine Ahnung.
Aber dieses Buch ist aus einer anderen Zeit. Es diente einstmals dazu, den Bestand an Grundkenntnissen des Kochens zu vermitteln und dabei das Wissen um die heimische Landesküche zu vertiefen. Es war allein an Hausfrauen gerichtet, die sich als solche zu profilieren hatten. Frau kaufte diese Standardwerke, um sich für das spätere Leben auszurüsten. In ihnen wurde Basiswissen vermittelt, auf eine autoritative, seriöse und unverzichtbare Art. Folgte man ihnen, lernte man den Bestand der Landesküche kennen, den Kanon der heimischen Essgewohnheiten, die unverzichtbaren Regeln für die richtige Zubereitung im Kreise der Familie. Wer das Kochen nicht beherrschte, war eben keine gute Hausfrau und musste das Getuschel seiner Freundinnen oder der weiblichen Verwandtschaft auf sich nehmen – vom Genörgle der männlichen Haushaltsmitglieder ganz zu schweigen. Das Selbstwertgefühl war untergraben, die Identität vertan. Die Kochfibel war ein biographischer Wegbegleiter, auf den man sich als Frau und Mutter im Leben verlassen wollte und die deshalb leicht erreichbar zuhause aufbewahrt wurden. Es war ein Überlebensinstrument und Nutzgegenstand mit Familiengeschichte. Die Speisenflecken im Buch zeugten von der gutgelebten Praxis der Lernenden. Handschriftliche Randnotizen ergänzten den Kanon des Wissens.
So war dies auch für meine Schwiegermutter, die als junges Mädchen Angestellte in einem reichen Haushalt war. Sie hatte das Buch erworben, um sich für ihren Beruf und das Leben als Frau sattelfest zu machen. Das Buch hatte sie einen halben Monatslohn gekostet: ein unbedanktes Opfer allerdings. Ihre Arbeitgeber haben sie wegen dieses Kaufs gescholten, sie sei verschwenderisch, hiess es. Es waren offenbar andere Zeiten als heute. Das Buch hatte sie ihrer Tochter weitergegeben, wohl in der Absicht, ihr einen Berater für ihre zukünftige Rolle als Hausfrau zur Seite zu stellen. Selbst war man ja mittlerweile zur Expertin geworden.
Ihr Blick ist wahrscheinlich des öfteren auch auf das Vorwort gefallen:
Wieder kann eine neue Ausgabe der „Goldenen Kochfibel“, ein schönes Zeichen, dass sich das Werk als Ratgeber für die Hausfrau einen festen Platz erworben hat. Eine Bestätigung auch, dass sich mit seiner Ausstattung, mit dem übersichtlichen Satz, den Zeichnungen und Tafeln etwas geschaffen haben, das dauerhaften Bestand hat, und was das Nachschlagen zur Freude macht.
Graf, Rosa: Goldene Kochfibel. Altbewährtes und Neues in Wort und Bild.
Es war ein das Thema des Kochens umfassendes, aber in der Herstellung billiges Buch. Es war kein Prunkband, sondern Nutzgegenstand. Der Einband bestand nicht aus Leinen, sondern nur aus billigem Papier. Wohl aber waren die Seiten geheftet und nicht geklebt. Das kam erst in den Sechziger Jahren und war Begleiterscheinung des Taschenbuchs. Der oftmalige Gebrauch dieses Buches zeigte im Laufe der 70 Jahre seiner Verwendung seine Spuren: so hatte sich der Buchrücken abgelöst und war komplett zerfleddert. Meine Lebensgefährtin hatte es erst vor wenigen Monaten beim Einräumen des neuen Buchregals entdeckt. Es sollte auf keinen Fall entsorgt werden! Gerne hätte sie es in Zukunft zum sentimentalen Schmökern benutzt und vielleicht auch das eine oder andere, in Vergessenheit geratenen Rezept der Schweizer Küche ausprobiert. Die Vergangenheit in Ehren halten, die Dinge schätzen! Ich schlug ihr deshalb vor, das Buch restaurieren zu lassen, denn Dinge, an denen das Herz hängt, sollte man auch ehren.
So fand das Buch seinen Weg nach Wien. Es gibt dort eine Buchbinderin meines Vertrauens, die sich auch alter und kaputter Bücher annimmt und ihnen neues Leben einhaucht. In ihrem wunderschönen Laden atmet die Geschichte: seit 1850 besteht diese Buchbinderei, der ursprüngliche Laden wurde während der Luftangriffe auf Wien im Jahr 1945 ausgebombt und übersiedelte daraufhin an seinen heutigen Standort in der Nähe des traditionsreichen Wiener Nachmarktes. Fast ein kleines Museum ist Laden wie Werkstatt: Beschneidehobel, Eichenpresse, Prägnant, Lumbeckmaschine – alles Dinge, die dort betrachtet werden können und Begriffe, von denen ich noch nie etwas gehört hatte.
Frau Machatsche ist nicht nur von den alten Instrumenten einer Buchbinderei umgeben, sie beherrscht auch ihr Handwerk aus dem Effeff. Natürlich hat sie auf den ersten Blick erkannt, dass der Einband „leider“ nur aus Papier besteht. Vorsichtig löst sie mit einem speziellen Messer an einer Kante das Deckpapier vom Einband, um zu prüfen, ob es sich ganz ablösen lässt. Das entfernte Deckpapier könne dann auf einem neuen Leineneinband aufgetragen werden, schlug sie vor. Das Papier könnte im Arbeitsprozess aber auch zerreissen, dann würde sie gezwungen sein, den gesamten Einband zu erneuern. Vorbei wäre es dann mit der gelungenen Restaurierung des Originaleinbands. Dieses Risiko müsse ich bei einem Auftrag wohl in Kauf nehmen.
Seriöserweise klärt mich Frau Machatschke auch darüber auf, dass der Wert des Buches eigentlich die Restaurierung nicht lohne. Zu teuer im Vergleich zum aktuellen Geldwert würde es kommen. Es sei denn, es handle sich um eine Herzensangelegenheit. Nun, darum handelt es sich wohl! Weiters fügte sie hinzu, dass es lange dauern würde, bis die Restaurierung fertiggestellt sei: mindestens sechs Wochen. In Zeiten der Pandemie waren wohl mehrere Menschen auf die Idee gekommen, ihre Lieblingsstücke neu binden zu lassen. An Aufträgen würde es nicht fehlen. Hätte ich die Geduld? Ich hatte, versicherte ich ihr. Gerne überliess ich dieses Buch der Meisterin: dort wäre es wohl sehr gut aufgehoben. Auf die Idee, mir eine Übernahmebestätigung geben zu lassen, kam ich erst gar nicht. Ich war auf das Ergebnis sehr gespannt, im Grunde aber zuversichtlich. Mein Vertrauen schien unendlich zu sein: zurecht, wie sich herausstellte.
Die Restaurierung gelang, alle waren höchst zufrieden. Die Meisterin, weil ein reparaturtechnisch komplexer Vorgang gelungen war; meine Person, weil ich meinen Auftrag verlässlich erfüllt hatte und die Besitzerin, weil sie ab nun ihr Buch nach Herzenslust benutzen konnte. Einen Rat gab mir Frau Machatschke noch auf den Weg: da die Kombinantion von Leinen und Papier keine ideale sei, riet sie dazu, das Buch bei häufigem Gebrauch einzubinden. So wie man früher Schulbücher in Papier eingeschlagen habe, um sie zu schonen. Doch das sei eigentlich selbstverständlich, meinte sie, die Meisterin des Buchbinderhandwerks. Ergriffen nickte ich.
Zuhause in Mostindien steht nun die sechzigzigjährige Kochfibel stolz im Buchregal und will benutzt werden. Das Schmökern darin ist ein wahres Vergnügen. Die Rezepte lassen meine Jugend wieder auferstehen: reichhaltiges, einfaches und sorgfältig bereitetes Essen – das Essen meiner Grossmutter, die wie die Autorin des Buches auch Rosa hiess. Vielleicht probiere ich das eine oder andere schweizer Rezept aus und nähere mich Mostindien auch kulinarisch: so wie man vor vielen Jahren Essen zubereitet und verzehrt hat. Ancienne Cuisine, Slow Food natürlich! Vielleicht auch auf diesem Blog.
Was für eine schöne Geschichte – und mir ganz nach dem Herzen geschrieben. Ich bedaure sehr, das Kochbuch meiner Großmutter nicht zu besitzen. Ich fürchte, es ist bei der Auflösung der Wohnung nach dem Tod des letzten dort lebenden Familienmitglieds in der Papiertonne gelandet. Ein altes, fleckiges zerlesenes Buch, in das meine Großmutter nur selten einen Blick warf. Sie kochte alles „aus dem Kopf“. Aber ich erinnere mich an den Geruch des alten Buchs – die Küchengerüche ungezählter Jahre. Besäße ich es heute, wären es mir die Kosten für einen Buchbinder allemal wert. So wie es ist, koche auch ich vorwiegend „aus dem Kopf“ und bin froh, in meiner Kindheit und frühen Jugend so viel Zeit bei meiner Großmutter in der Küche verbracht zu haben. Übrigens sind seit „Großmutters Zeiten“ nur wenige – abgeschaute und ebenfalls im Kopf mitgenommene – Rezepte hinzugekommen.
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