
Viele meiner „Dinge“ lagern in Kisten. Das bringt mein Lebenswandel mit sich. Aus den Augen, aber nicht aus dem Sin: einfach nur transportfähig und staubsicher gemacht. Zwei der Kisten sind sgn. Biographiekisten, sie sind sakrosankt und bei jedem Umzug dabei. Darin befinden sich Dinge, die in meinem Leben wichtig waren und die ich wahrscheinlich niemals wegwerfen werde: Tagebücher, Fotografien, Schmuckstücke, Eintrittskarten, Nippes und, und, und. Sie kennen das Phänomen: Da liegt Unberührbares mit fast sakralem Charakter, die angesammelten Dinge stellen unverzichtbare „Anker“ des Bewusstseins im Strom der Erinnerung dar. Beim Durchstöbern dieser Dinge taucht längst Vergessenes wieder auf, nur dadurch, dass man diese Anker in die Hand nimmt und betrachtet. Ein Fluss von Erinnerungen wird ausgelöst: unberechenbar, trügerisch, bezaubernd, oft auch unangenehm und schmerzhaft. Hätte man diese Dinge nicht über Jahre und Jahrzehnte aufbewahrt, hätte man die Erinnerung an Vieles verloren. Doch nicht alle Anker funktionieren. Manche sind bedeutungslos geworden, sie sind stumm, haben sich der Erinnerung entbunden und man könnte sie eigentlich entsorgen. Keine Anker mehr, nur noch totes Zeug. Jedoch man zögert: vielleicht kommt die Erinnerung beim nächsten Mal wieder.
Das ist ein seltsamer, magischer und im Grunde nur schwer vermittelbarer und erklärbarer Vorgang. Gewiss können uns Biologen und die Naturwissenschaft derartige Phänomene erklären, aber ich will nichts hören über chemische Prozesse und Nervenleitfähigkeit. Mir geht es um die Bedeutung derartiger Vorgänge für mein aktuelles Sein. Da ist also das Verschwinden und Auftauchen von Erinnerung und ihre Bindung an Menschen, Dinge, Gerüche, Worte und Musik. Es trifft auch zu, dass Erinnerung nie Wahrheit ist, weil sie zum Teil den Wünschen, die man an seine Vergangenheit heranträgt, geschildet ist.
Was aber, wenn die Erinnerung verschwindet, weil es die Dinge, die Menschen, die uns umgebende Natur nicht mehr gäbe? Wenn sie unwiderbringlich ausgelöscht wäre, weil es die Dinge nicht mehr gibt? Könnten wir dann leben? Von Menschen mit Amnäsie wissen wir, dass sie sich oft keine Zukunft vorstellen können, sie sind Gegenwartsmenschen. Ihre Zeitvorstellung ist erloschen.
Dann las ich folgenden Dialog in einem neuen Buch:
(Person A): Das bedeutet, dass alle Dinge, die bisher von dieser Insel verschwunden sind, vollständig in ihrem Inneren erhalten geblieben sind.
(Person B): Ob vollständig, kann ich nicht beschwören. Erinnerungen nehmen ja nicht bloss an Menge zu, sondern verschieben und verwandeln sich im Laufe der Zeit. Manche verschwinden sogar vorübergehend. Aber das ist grundlegend anders als die Auslöschung, wie ihr sie kennt.
Yoko Ogawa. Insel der verlorenen Erinnerung. 2021.
Mit Spannung und Ergriffenheit habe ich den Roman der japanischen Autorin Yoko Ogawa gelesen, das sich dem Phänomen der verlorenen Erinnerung widmet. Es erzählt die Geschichte einer Auslöschung: der Dingen, der Erinnerung und der Welt. In einem fiktiven Inselstaat herrscht die Erinnerungspolizei: sie wacht über die Einhaltung des Vergessens und Verschwindens: totalitär, unerbittlich und auf verhaltene Weise grausam. In regelmässigen Abständen verschwinden Dinge: Vögel, Rosen, Bücher und viele andere Gegenstände. Mit ihrem Verschwinden erlischt auch die Bedeutung derselben für die auf der Insel lebenden Menschen: das physische Verschwinden von Gegenständen bedingt ihr Vergessen durch die Menschen. Sind die Dinge einmal verschwunden, zerstört und vergessen, so ist der Prozess unausweichlich: nur mehr ein wages Gefühl an die einstige Bedeutung bleibt über, seine Bedeutung kann durch die der Erinnerung beraubten Menschen kaum mehr erschlossen werden. Wem es aber gelingt, die verschwundenen Dinge (und damit die Erinnerung an sie) doch festzuhalten, dem droht die Verschleppung durch die Erinnerungspolizei.
Die Geschichte einer Schriftstellerin wird erzählt, welche ihrem Lektor Unterschlupf gewährt, weil dieser befürchtet, von der Erinnerungspolizei abgeholt und – niemand weiss wohin – verschleppt zu werden. Er ist einer jener Menschen, die von dem um sich greifenden Prozess des Vergessens ausgenommen sind und deshalb für die Ziele der Erinnerungspolizei in höchstem Masse gefährlich sind. Mit Hilfe eines alten Mannes baut die Schriftstellerin in ihrer Wohnung einen gut getarnten Unterschlupf, in dem ihr Lektor Zuschlupf findet: eine Art Widerstandsnest gegen das Vergessen. Eingebettet in diese Handlung sind Texte des neuen Romanes der Protagonistin, der von der Geschichte einer Schülerin erzählt, die von ihrem Schreibmaschinenlehrer der Freiheit beraubt wird und, ohne sich sprachlich ausdrücken zu können, von diesem für seine perversen Obsesionen missbraucht wird. Ihrer Schreibmaschine beraubt, verstummt sie und vegetiert in der Dachkammer eines Turmes dahin. Wir lernen in diesem sehr intensiv und klug geschriebenen Buch, dass mit dem Verschwinden der Dinge und der Sprache menschliche Erinnerung und Ausdrucksfähigkeit versiegen, ja überhaupt zum Verschwinden der Menschlichkeit und des Menschen führen. Und doch: die Erinnerung stirbt, so wie die Hoffnung immer zuletzt.
In vielen Kritiken dieses Romans wird dieser als grossartige Dystopie gefeiert, als neue Parabel auf autoritäre Regime mit ihren Kontrollmechanismen und der Unterdrückung von öffentlicher Sprache und Erinnerungskultur. Das sicherlich zu Recht. Vergleiche mit George Orwell werden gezogen. Letzteres sicher zu Unrecht. Assoziationen an die Nationalsozialistische Diktatur tauchen natürlich auf, etwa an jenen Stellen, die auf eindrückliche Weise Bücherverbrennungen beschreiben. Ein Schlüsselerlebnis für die Schriftstellerin, da sie ab nun ihrer Lebensgrundlage beraubt ist. Mit einem Male hat das Schreiben und Verfassen von Geschichten keine Bedeutung mehr. Ihr Lektor versucht ihr, die Erinnerung wiederzugeben. Es reicht zum Vollenden der Geschichte. Ein müshsamer, fast unmöglicher Prozess.
Ich glaube nicht, dass man es sich so einfach machen kann, das Buch allein als eine Dystopie des Totalitarismus lesen zu wollen, ganz einfach deshalb, weil weit mehr erzählt wird als die Bedrohung durch eine Erinnerungspolizei, von welcher man zudem nicht erfährt, welchen Zielen ihre klandestine Tätigkeit dient. Die Phänomene der Amnäsie, der Sprachlosigkeit und der Auslöschung sind in das Erleben der Protagonistin des Romans verlagert, die Angst vor dem Unerklärlichen bestimmt ihren Alltag. Die Leser schreiben sich ein in die allgemeinen Prozesse der Amnäsie, und in das Verschwinden der Vergangenheit. Die Zukunft verschwindet mit ihr und eine apathische Gegenwart ergreift Alle.
Post Skriptum:
Ich besuche die Gedenkstätte für die in der Zeit der Shoah ermordeten Österreicher und Österreicherinnen. Sie wurde vor wenigen Tagen eröffnet, nicht ohne Kritik von Historkerinnen und Historikern. Auch hier wird der Kampf um die Erinnerung und gegen das Vergessen sichtbar. Auch hier stellt sich die die Frage, was man denn brauche, um dem Vergessen zu wehren. Müssen die Namen der Opfer „ausgestellt“ werden, um die Erinnerung zu manifestieren? In einem zeitaufwendigen Prozess wurde vom Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands die Namen und das Geburtsjahr von fast 65.000 Opfern der nationalsozialistischen Rassengesetzen wissenschaftlich dokumentiert. Wo aber sind jene, die aus anderen Gründen ermordet wurden: die politisch Verfolgten, die Homosexuellen, die Roma und Sinti , die Menschen mit Behinderung?
Was aber mit den Juden geschah, darüber hat mein meine Grossmutter, selbst Atheistin, nie geschwiegen. Sie erzählte davon, teilte ihre schmerzhaften Erinnerungen. Den Uhrmacher Silberstein habe man mit seiner Familie abgeholt, und auf einen Lastwagen verfrachtet, das habe sie selbst gesehen! Und so gehe ich zur einer der Tafeln des Denkmals und suche dort den Namen Silberstein, finde mehr als hundert Silbersteins. Sind da auch jene Juden darunter, die meine Grossmutter gekannt hat? Ich weiss es nicht, habe nur einen Familiennamen in Erinnerung. Gerne hätte ich den Namen berührt, in einer Art magischen Akt, als könnte ich ihn wieder lebendig machen.

Ausschnitt aus dem Shoah-Denkmal, Ostarichi Park, Wien
Danke für einen faszinierenden Text!
In Deutschland ist „Erinnerung“ so etwas wie ein Mantra, vielleicht ein Schlüsselwort zur geistigen Situation. Die Erinnerungskultur hat zum Teil Züge einer Erinnerungsindustrie angenommen. Von amerikanischen Juden hörte ich den sarkastischen Spruch „There’s no business like Shoah business“.
Seit den späten Achtzigerjahren mit Holocaust Education befasst, werde ich zunehmend bedenklich, dass Erinnern eigene Muster schafft, die auf ihre Weise dem Weiterleben ebenso dienen wie das Vergessen. Die Untersuchung „The Texture of Memory. Holocaust Memorials and Meaning“ von James Young (Yale 1993) geht u.a. auch diesem Problem nach.
Während der über Jahre sich hinziehenden Auseinandersetzung um den Entwurf des Berliner Holocaust-Monuments schrieb uns Young, dass die einzige Form, die dem Anspruch des Erinnerns gerecht werden könne, genau dieser Streit sei, also der gegenwärtige Prozess der Auseinandersetzung, – dieser Prozess, diese verzweifelte Vergegenwärtigung sei die Antwort auf das unfassbare Verbrechen, nicht das Produkt („Denkmal“).
Ido Abram, Rabbi in Amsterdam, sprach mir damals zu, es gebe eine Zeit des Erinnerns und es gebe eine Zeit des Vergessens, und beide hätten ihr Recht in der Welt.
Inzwischen ist die Alzheimer-Krankheit verstärkt, wie mir scheint, ins öffentliche Bewusstsein gelangt, und dabei kommen neue Ansichten der Erinnern-Vergessen-Doublette zum Vorschein. Wäre es nicht unerträglich, wenn Vergessen gar keinen Sinn haben sollte.?
Eine hübsche Wendung scheint mir dieser immer wieder durch herrliche Sprüche auffällig werdende Papst Franziskus ins Spiel gebracht zu haben, als er sagte: „Gott vergibt unsere Sünden nicht, er vergisst sie.“ Ich stelle mir vor, dass Gottes Vergessen keine Vergesslichkeit ist. Es ist vielmehr in der Welt verankert und womöglich, aller Schriftkunst und sogar der Digitalisierung zum Trotz, vom konkreten und ganz analogen Wechsel der Generationen abhängig. Als ob Information als Transaktionsebene für sich nicht hinreicht, um die Kategorie „Schuld“ als persönliche Bürde in Umlauf und Geltung zu halten. Meine Mutter hat sie mir gegeben, und auch meinen Kindern. Womöglich ist auch ein Schatten davon auf die Kinder meiner Kinder gefallen, aber für sie setzt bereits Gottes Vergessen ein.
– Irgendwie bleiben die Fragen unbeantwortet, so sehe ich es, obwohl ich doch die Sprache im Antwort-Modus einsetze. Vielleicht ist es so, dass es eher darauf ankommt, über diese Dinge nachzudenken, als darauf, sie durch Antworten zu erledigen.
Danke für Ihren so ansprechenden Text!
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Und danke für Ihren inhaltsreichen Beitrag!
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